„Der probiert etwas aus“
Fabian Reicher vom Verein „Back Bone“ warnt davor, Jugendliche als DschihadistInnen oder Neonazis zu brandmarken, sofern diese Sympathien bekunden. Was Schule und Politik aus den Erfahrungen der Jugendarbeit lernen können. | Interview: Ali Cem Deniz
Die Gesellschaft sieht in Jugendlichen nicht nur Hoffnung für ihre Zukunft, sondern immer auch eine Bedrohung für ihre Gegenwart. Die Angstmache erreicht zurzeit neue Höhepunkte. Wie betrachtest du den Diskurs?
Das ist ja ein klassischer Generationenkonflikt. Der letzte Höhepunkt vor der Radikalisierungsdebatte war das berüchtigte „Komasaufen“, wo Alkoholismus von einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen zu einem Jugendproblem gemacht wurde. Die Radikalisierungsdebatte verläuft ähnlich. Wir reden ständig darüber, was mit den Jugendlichen schiefläuft. Dazu kommen Diskussionen über den Islam. Wir fragen uns, ob der Islam gefährlich ist, statt uns zu fragen, was vielleicht unsere Gesellschaft versäumt hat und was wir machen sollten, damit sich alle hier wohl fühlen. Warum ist beispielsweise keine Bildungsdebatte entstanden, wenn es schon um Jugendliche geht?
Vor allem Boulevardmedien stürzen sich auf Storys von jungen Radikalen. Diese Nachrichten werden dann wiederum von Jugendlichen konsumiert.
Das unhinterfragte Abdrucken von Bildern oder Facebook-Einträgen aus den IS-Propagandakanälen erhöht die Reichweite der radikalen Gruppen unglaublich. Ich vergleiche das immer mit dem Thema Selbstmord. Das Medienethikgesetz schränkt die Berichterstattung darüber ein, weil man sich vor Nachahmern fürchtet. Wenn ein Jugendlicher nach Syrien in den Krieg zieht, ist das auch nichts anderes als erweiterter Selbstmord. Deshalb muss sich auch bei diesem Thema der Journalismus an bestimmte ethische Grundsätze halten. Außerdem differenzieren die Medien kaum zwischen Begriffen wie Islam, Islamismus, Salafismus oder Dschihadismus. Diese Berichterstattung emotionalisiert die Jugendlichen sehr. Sie fühlen sich in die Ecke gedrängt und stigmatisiert. Das macht es viel schwieriger, über heikle Themen zu sprechen.
Wie setzt ihr euch dennoch mit heiklen Themen auseinander?
Unsere Hauptaufgabe ist es, erwachsene Ansprechpersonen zu sein für alle Angelegenheiten, die unsere Jugendlichen gerade betreffen – egal ob es um Liebeskummer oder Schulnoten geht. Religiöse Radikalisierung ist für den Mainstream ein neues Thema, aber für uns heißt das nicht, dass sich jetzt alles geändert hat. Die Jugendphase ist eine Zeit des Suchens, des Tastens und des Abgrenzens gegenüber der Welt der Erwachsenen. Da ist es nicht ungewöhnlich, mit extremistischen Ideologien in Kontakt zu kommen oder gar zu sympathisieren. In den meisten Fällen ersetzen das Erwachsenwerden, Familie, schulische und berufliche Entwicklungen diese Ideologien. Extreme Ansichten manifestieren sich bei Identitätsbrüchen im Erwachsenenalter. Ich würde niemals sagen, dass ein Jugendlicher ein Dschihadist ist, weil er damit sympathisiert. Ich würde auch nicht einen 15-Jährigen, der irgendwo ein Hakenkreuz zeichnet, als Nazi bezeichnen. Der probiert etwas aus, und oft stehen da ganz bestimmte Bedürfnisse dahinter.
Welche Bedürfnisse?
Das sind vor allem Zugehörigkeit, Orientierung an Werten und die Suche nach klaren Regeln und Grenzen. Ein großes Bedürfnis ist im Jugendalter natürlich auch Provokation. Der Diskurs um religiösen Radikalismus macht es den Jugendlichen sehr einfach. Damit können sie noch provozieren in einer Gesellschaft, die so individualisiert und pluralistisch ist. Tätowierungen sind mittlerweile was völlig Normales, und pornografische Elemente gibt es in jeder Werbung. Dschihadistische Parolen hingegen sind inzwischen die ultimative Provokation. Das ist sehr lustvoll, denn wenn die Jugendlichen erkennen, dass sie in der Gesellschaft Angst auslösen können, sehen sie sich in einer Machtposition. Wir haben keine Angst vor ihnen. Wir kennen sie und unterscheiden zwischen jugendadäquater Provokation und echten Krisen, und wir versuchen ihnen alternative Möglichkeiten zu zeigen, mit denen sie ihre Bedürfnisse befriedigen können.
Muss die Gesellschaft lernen, mit diesen neuen Provokationsformen umzugehen?
Die Geschwindigkeit, mit der Propaganda verbreitet wird, hat sich enorm erhöht. Konflikte, die eigentlich weit weg sind, sind direkt vor unserer Haustür. Die neuen Medien tragen sofort Bilder aus dem Krieg hierher. Das ist sowohl für die Jugendlichen als auch für uns eine Überforderung. Institutionen wie die Schule reagieren langsam auf diese Veränderungen. Ein Drittel des Lebens der Jugendlichen spielt sich in sozialen Medien ab, und trotzdem haben soziale Medien wenig Platz an der Schule.
Aus den Schulen hört man ja, dass Lehrer schnell die Polizei einschalten, wenn muslimische Schüler sich auffällig äußern.
An den Schulen gibt es viele strukturelle Schwierigkeiten. Viele Lehrer fühlen sich überfordert, weil sie nicht nur unterrichten, sondern immer mehr erzieherische Aufgaben übernehmen müssen. Bei heterogenen Klassen mit bis zu 30 Schülern wird das zum Problem. Deshalb brauchen wir eine Bildungsreform, die Konzepte wie „Teamteaching“ einführt. Wir bei der Jugendarbeit sind ja nie allein. Wir arbeiten in einem Team, und für mich wird die Arbeit einfacher, wenn ich weiß, dass ich mich auf die Kollegen verlassen kann. In der Schule ist das nicht immer so. Der mediale Diskurs über Radikalisierung erzeugt viel Angst. In dieser Atmosphäre glauben Lehrer schnell, dass sie mit ihren pädagogischen Ressourcen am Ende sind. Ganz viele Probleme, die beispielsweise mit familiären Schwierigkeiten zu tun haben, werden gleich mit Extremismus assoziiert.
Was können Schulen und die Politik aus eurer Erfahrung in der Jugendarbeit lernen?
Man kann sich aus unserer Arbeit ganz viel abschauen in puncto Haltungen und Wertschätzungen. Uns ist egal, wer wo herkommt, wir behandeln alle gleich. Wir sind offen für die Themen und Interessen der Jugendlichen. Wir arbeiten ressourcenorientiert. Das heißt, wir versuchen sie in ihrem Können zu unterstützen und nicht ihre Schwächen auszumerzen. Das Schulsystem muss sich auf die individuellen Stärken und Interessen der Jugendlichen einlassen.
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