Die Lüge vom gesellschaftlichen Ganzen
Ein tendenziöser Schnellkurs zum Begriff Integration. | Text: Richard Schuberth
Lassen Sie mich Ihnen ein Märchen erzählen. Es war einmal ein eingebildetes Haus, in dem lebte eine eingebildete Familie. Und die lebte in eingebildeter Egalität, deren Einbildung noch aus den Tagen der Konjunktur stammte. Die eingebildeten Verwandten in den Luxussuiten des eingebildeten Hauses merkten, dass die Bewohner der unteren Etagen sich alles gefallen ließen, und erhöhten die Mieten und zahlten nicht mehr in die gemeinsame Hauskasse ein. Die Bewohner der unteren Etagen aber träumten von einem Leben in den Luxusetagen und identifizierten sich mit deren Bewohnern; denn dabei, dass sie von ihnen nicht zu ihren Dachpartys eingeladen wurden, konnte es sich nur um einen Irrtum handeln, man hatte sie wohl auf der Gästeliste übersehen. Langsam machte sich Unbehagen breit, zumal von außen immer mehr neue Mieter ins Haus drängten, die man hasste, weil sie noch erfolgloser waren und vielleicht erfolgreicher werden könnten als man selbst. Da man sich irgendwie verarscht fühlte, aber nicht wahrhaben wollte, dass die eigenen schönen, erfolgreichen Cousins es waren, die einen verarschten, verarschte man die jeweils Schwächeren und warf ihnen vor, weder mit ihnen selbst noch den Cousins verwandt zu sein. Die eingebildeten Cousins erkannten, dass, solange die Loser mit den anderen Losern rangelten, man ihnen ungestört noch mehr Besitz und Rechte klauen konnte. Den dümmsten unter ihnen erzählten sie, dass sie doch alle eine Familie seien, die es zu verteidigen gelte, den Halbdummen, dass sie doch alle eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Werte teilten, die man verteidigen solle, und den ein bisschen weniger Dummen, dass sie eine auf geteiltem und hart erarbeitetem Wohlstand beruhende Solidargemeinschaft bildeten, die erst recht verteidigt werden müsse. Ganz gleich ob Blut, Werte oder Schweiß, auf einmal gab es sehr viele andere, die man zwar, leider gab es da noch Gesetze, nicht alle delogieren, aber piesacken, quälen und mit dem Vorwurf belasten konnte, sie seien nicht willig oder fähig, dazuzugehören. Nie im Leben wären die benachteiligten Cousins auf die Idee gekommen, sich mit den benachteiligten Außenseitern gegen die wahren Betrüger zu verbünden oder zumindest ihre Interessen mit denen jener abzugleichen, zu sehr gärte in ihnen noch immer die Hoffnung, doch bald mit den Cousins am Dachswimmingpool Long Island Ice Tea schlürfen zu dürfen ...
Der Tanz nach der Pfeife der Mächtigen
Dieses Märchen klingt schematisch, simpel und tendenziös. Aber es ist schwer zu widerlegen. Kluge Jugendliche erfinden es immer wieder neu, ehe sie Sozial- und Kulturwissenschaften studieren. Es mag elaboriertere Gesellschaftstheorien geben, dieses Märchen aber hält einzig den Schlüssel zur Veränderung bereit.
Integration ist eine Lüge, weil die Gesellschaft eine ist, in welche integriert werden soll. Dieser Satz ist natürlich eine Provokation. Denn nicht immer läuft die unhinterfragte Vokabel Integration auf blanken Blödsinn hinaus. Eine gewisse Relevanz erhält sie als sozialtechnische Serviceleistung in konkreten Feldern, in Bemühungen etwa, Arbeitslose, Frauen, MigrantInnen, Behinderte in den Arbeitsmarkt zu „integrieren“, behutsam Hindernisse bei deren sozialer Mobilität aus dem Weg zu räumen, ihnen nicht nur das Gefühl zu vermitteln, nicht draußen zu stehen, sondern dort drinnen, im imaginären Inneren der Gesellschaft, auch Chancen und Möglichkeiten zu haben. Und Gesellschaft ist nur dann keine Lüge, wenn sie nicht völkisch oder – aufgeklärter – steuernational eine Gemeinschaft suggeriert. In der Tat ist sie der durch politische Inklusion begrenzte Ausschnitt eines babylonischen Wirrwarrs antagonistischer, koalierender oder einander überlappender Interessen. Die Lüge beginnt bei jedem Versuch, diese Antagonismen zu leugnen. Und nicht erst bei deren Kulturalisierung, womit freilich die pathologische Phase des Realitätsverlustes erreicht ist.
Fast immer schwingen im Geschwätz von der Integration unheimliche Töne mit, die Klänge von Drohung und Erpressung. Gesellschaft – in unserer Vorstellung als Gemeinschaft stets unschlüssig zwischen Solidar- und Schicksalsgemeinschaft hin und herflatternd und in Zeiten der Krise sich von Ersterer zu Letzterer verlagernd – stabilisiert sich idealtypisch durch die Balance von Rechten und Pflichten. Macht ist darauf erpicht, dieses Verhältnis zu hierarchisieren – die Drosselung der Rechte geht immer mit einer Einmahnung von Pflichten einher. Machtpsychologisch intendiert der Vorwurf, dem falschen Ganzen Pflichten schuldig zu sein, Scham, Bringschuld und Schockstarre, wohinter sich widerstandslos der Raub der Rechte vollziehen kann. Dies ist Kern der neoliberalen Matrix, die anhob mit der Allmachtsfantasie, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, und nicht nur in der Resignation endete, den Schmiedehammer seines vorhersehbaren Unglücks selbst zu schwingen, sondern am Unglück des ganzen Systems Schuld zu tragen. Der internalisierten Konkurrenz mit sich selbst gesellt sich natürlich die älteste Machtstrategie hinzu: Entsolidarisierung und Gruppenkonkurrenz.
Die Menschen kennen die Lüge vom gemeinsamen Haus der Gesellschaft nur zu gut, je qualvoller sie dessen Falschheit spüren, desto lauter müssen sie seine Richtigkeit proklamieren. Und je imaginärer das kollektive Eigene ist, desto drastischer muss das Fremde als Zerrbild der eigenen Depravation designt werden, und darf man es (noch) nicht vernichten, so muss man es zumindest bei jeder sich bietenden Gelegenheit bevormunden, abwerten, disziplinieren. Man gleicht dann dem Katholiken, über die Karl Kraus schrieb: „Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem kein so schönes Verdienst wie ihn jenen vom Kopfe zu schlagen, die kurzsichtig oder andersgläubig sind.“
Je egalitärer aber eine Gesellschaft ist, je gerechter Chancen und Wohlstand verteilt sind und das Verhältnis von Rechten und Pflichten ausbalanciert ist, desto weniger bedarf sie kultureller Rechtfertigungen, der Phantasmata von Familienbanden, gemeinsamer Kultur, die allesamt auch Symptome innerer Desintegration sind.
Zwei Strategien gibt es gegen die Integrationslüge: sich zu desintegrieren, wo immer falsche Integration gefordert wird, und den wahren Desintegrationsprofiteuren, die ständig nach Integration geifern, das Handwerk zu legen. Wenn wir Randgruppen integrieren, dann in Solidargemeinschaften, die diesen Namen verdienen, und nicht nach der Pfeife der Macht, welche sofort verstummte, würden wir nicht länger nach ihr tanzen.
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