Wir befinden uns in einem Teufelskreis
Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaften an der Uni Wien, über das gleichermaßen simple Islamverständnis von Dschihadisten und Islamkritikern, den Lego-Islam der Medien und den dringenden Bedarf, die Communities positiv zu unterstützen. | Interview: Gunnar Landsgesell
Wir erleben zurzeit eine sehr emotionale und oft wirre Debatte über Islam und Radikalisierung. Theologische Fragen vermischen sich mit soziologischen. Wie erklären Sie sich die fehlende Trennschärfe?
Zumeist wird Religion ausgeblendet. Für die Radikalisierungsprozesse spielt der Islam am Anfang tatsächlich eine sehr geringe Rolle. Da geht es stark um individuelle Krisenerfahrungen, die können bis zu einem Autounfall reichen. Es kann auch einen Kollektivbezug geben, etwa die Erfahrung, dass Muslime weltweit bedroht und verfolgt werden. Das lässt sich dann über das Internet leicht belegen, und dann kommt der Punkt, wo der Link zur Subkultur des Dschihadismus gefunden wird. Wir kennen Beispiele, wo junge Leute auch erst über Mainstream-Medien auf das Phänomen aufmerksam werden. Auch österreichische Zeitungen haben diese Art der Berichterstattung „gut“ betrieben.
Das Magazin „profil“ hat mit dem Titel „Was den Islam gefährlich macht“ eine simple wiewohl verkaufsträchtige Gleichung auf sein Cover gesetzt. Wie sehen Sie das als Religionswissenschaftler?
Es gibt gefährliche Muslime, es gibt aber auch gefährliche Atheisten. Dieser Satz ist eine Nullaussage. Deshalb habe ich mir das Heft auch nicht gekauft. Man kann aus jeder Religion die Begründung für gewaltsame Aktionen ableiten. Falls wir aber von der dschihadistischen Subkultur sprechen, die wir untersucht haben, dann funktioniert die so, dass bestimmte Elemente aus dem Mainstream-Islam benutzt und verschoben werden, um Gewalt als einzige Lösung darzustellen. Die Frage ist: Wie kann ich dagegen methodisch angehen? Es müssen Maßstäbe entwickelt werden, mit denen sich solche Entwicklungen kritisieren lassen. Das ist innerislamisch bislang nicht ausreichend passiert, etwa eine anerkennende Toleranz zu entwickeln. Das existiert in Ansätzen, auch in Bezug auf die Tradition. Aber das ist nicht weit verbreitet. Es gibt und gab auch Versuche, systematisch eine islamische Friedensethik zu entwickeln. In Indonesien etwa vertritt die Nahdlatul Ulama einen toleranten, pluralistischen Islam – sie ist mit 50 Millionen Mitgliedern immerhin die größte muslimische Organisation der Welt. Sie versuchen seit Jahren, eine Gegenposition zu Salafisten/Wahhabiten zu entwickeln. Hier hätten wir ein Beispiel für einen innerislamischen Lösungsansatz. Wenn aber Yusuf al-Qaradawi (Starprediger auf Al Jazeera, Anm.) sagt, dschihadistischer Terrorismus ist schlecht, aber terroristische Aktivitäten innerhalb Israels sind gut, dann kann man das religiös-methodisch überhaupt nicht begründen. Das ist eine moralisch-politische Begründung, die keine Grundlage hat, um gegen andere terroristische Aktivitäten zu argumentieren.
Hier bewegen wir uns wieder im Bereich von Interpretationsfragen oder der Diskursmacht Einzelner. Wie aber steht es um den Koran als zentralen Text, der ja bei der Gleichung „Islam ist Bedrohung“ mitgemeint ist. Der Koran – gefährlicher als die Bibel?
Es gibt auch in der Bibel eine gewisse Person, die gekommen ist, das Schwert zu bringen. Das wird häufig vergessen. Und auf das Alte Testament brauchen wir gar nicht einzugehen. Man kann grundlegende Texte von Religionen nur verstehen, wenn man versteht, was an Interpretationstechniken vorhanden ist. Es ist naiv, ein Buch aufzuschlagen und sich ein paar Begriffe herauszusuchen, wie das in der derzeitigen Diskussion passiert. Wenn Journalisten über islamische Themen berichten, dann ist es deren Aufgabe, auch sorgfältig zu recherchieren. Wenn Sie nun aber ein Problem des innerislamischen Diskurses ansprechen, möchte ich ein Beispiel geben: Denken Sie an ISIS, die Homosexuelle von hohen Häusern geworfen und das mit der Lehre begründet hat. Es gibt tatsächlich solche Rechtsmeinungen, natürlich nicht im Koran. Unter Islamgelehrten wird darüber aber nicht diskutiert, sie klammern solche extremistischen Meinungen lieber aus. Der dschihadistische Jugendliche ist dadurch für Fanatiker aber leicht ansprechbar: Sie präsentieren ihm das als die wahre Lehre, während er selbst das Gefühl hat, hier etwas Geheimes erfahren zu haben – die Wahrheit, die ihm die Mainstream-Gelehrten offenbar vorenthielten.
Wissen Kinder muslimischer Eltern in Europa oft zu wenig über den Islam? Wäre es denkbar, dass eine mangelnde Weitergabe von Traditionen Jugendliche für Agitation stärker ansprechbar macht?
Ob religiöse Bildung absolut schützt, weiß ich nicht, da gibt es Gegenbeispiele. Aber die Wahrscheinlichkeit könnte sich erhöhen. Bei Dschihadisten handelt es sich aber um einen Versatzstücke-Islam, da ist nicht viel Wissen nötig. Die Welt ist recht simpel in Gut und Böse eingeteilt. Da geht es mehr um das allgemeine Gefühl der Ungerechtigkeit. Die Frage ist: Wo docke ich an? Da kommt die Religion ins Spiel. Im Fall von Mohamed Mahmoud, dem bekanntesten Islamisten in Österreich, reichen ja sehr bescheidene Islam-Kenntnisse, um als Sheikh, als Gelehrter, zu gelten.
Haben wir es paradoxerweise mit einem Diskurs zu tun, der von beiden Seiten auf dieser Versatzstückebene gestaltet wird? Als in der ORF-Sendung „Im Zentrum“ die Moderatorin aus der Sure 4 zitierte, entgegnete ihr der Politikwissenschaftler Asiem El Difraoui, solche Diskussionen auf Basis eines Lego-Islam seien nicht seriös.
Ja, das ist ein Spiegelbild. Wenn wir vom Terrorismus weggehen, und einen Salafisten und einen antiislamischen Vertreter hernehmen, die sind absolut derselben Meinung. Nur der eine findet es gut, der andere schlecht. Diese bruchstückhaften Islamdiskussionen führen selten über solch simple Schemata hinaus. Dabei ist nicht vorstellbar, was mir etwa ein katholischer Priester kürzlich in Indonesien erzählt hat. Dort holen Katholiken in Krisenzeiten in bestimmten Regionen islamische Milizen zum Schutz für die Abhaltung ihrer Messe – und nicht die Armee. Und zwar deshalb, weil im Fall eines Angriffs die Armee flüchten würde, während die islamischen Milizen die Kirche gegen die Extremisten verteidigen.
Der Begriff des politischen Islam ist ein geflügeltes Wort geworden – gibt es aber nicht auch ein politisches Christentum? In Österreich hat FPÖ-Chef Strache mit dem Kreuz in der Hand Wahlkampf geführt, Religionslehrer werden selbstverständlich von staatlicher Seite bezahlt. In Teilen der Welt missionieren fundamentalistische Pfingstbewegungen auch mit Gewalt, etwa in Afrika.
Es gibt natürlich eine politische Rolle des Christentums – und innerhalb einiger Kirchen auch Strömungen, die eine Politisierung wollen. Ein Vergleich zeigt, dass in beiden Fällen Gewalt legitimiert wird, dass die Dichotomie einer guten und einer verkommenen Welt existiert, dass sexuelle Minderheiten verdammt oder verfolgt werden. Auch eine apokalyptische Grundhaltung ist im Christentum zu finden: Die „Left Behind“-Strömung schwappt gerade aus den USA zu uns herüber, eine Buchserie, die nun mit Nicolas Cage auch verfilmt wurde. Da werden die Erretteten urplötzlich in den Himmel versetzt, während die restliche Bevölkerung in das Chaos der letzten Tage gestürzt wird. Diese apokalyptische Stimmung gibt es im Dschihadismus auch.
Würden Sie sagen, dass in Österreich, anders als in Deutschland oder Frankreich, die Politik nicht entschieden genug gegen rechtspopulistische Versuche auftritt, Islam und Dschihadismus gleichzusetzen?
Ich denke, das ist bei vielen Menschen schon so abgespeichert, und ich halte das für wenig verwunderlich bei dem Medienfeuer, das bei jedem Anschlag produziert wird. Das ist natürlich auch Ausdruck einer eurozentristischen Sichtweise, denn die getöteten Muslime in anderen Teilen der Welt, im Krieg in Syrien und im Irak, oder die 2.000 Toten in Nigeria durch Boko Haram werden nicht in gleicher Weise berücksichtigt. Das ist dann nur eine Kurzmeldung. Natürlich, bei Anschlägen in Europa sind wir näher dran. Aber wenn man über Dschihadismus diskutiert, dann muss man auch darüber reden, dass hunderttausend Muslime und Musliminnen ermordet worden sind.
Muslime werden bei Genderfragen regelmäßig als kulturell „rückständig“ bezeichnet. Vergessen scheint, dass in Österreich Frauen noch bis 1975 die Erlaubnis ihres Ehemanns für die Ausstellung eines Reisepasses oder die Eröffnung eines Bankkontos einholen mussten. Ehemänner konnten beim Arbeitgeber anrufen und den Job ihrer Frau einfach kündigen. Erst unter Kreisky wurde das gesetzlich abgeschafft. Warum wird im Fall muslimischer Gesellschaften ganz selbstverständlich die Kultur als Erklärung herangezogen?
Man könnte in christlich-abendländischer Tradition sagen, dass man den Balken im eigenen Auge einfach nicht sieht. Das ist in erster Linie ein Weg, um die eigene Überlegenheit noch einmal zu proklamieren. Um nicht die realen, tatsächlich stattfindenden Veränderungsprozesse in muslimischen Mehrheitsgesellschaften oder auch Communities in Europa zu bemerken. Daneben gibt es selbstverständlich auch negative Entwicklungen. Etwa die Bestrebungen von Männern, ihre Töchter im Sommer zu verheiraten. Deshalb hat es auch eine Initiative in Österreich gegeben, dass die Imame vor der Sommerpause predigen, dass das nicht islamisch ist. Zugleich gibt es junge Studentinnen, die sich als hervorragende und unabhängige Denkerinnen erweisen, auch mit Kopftuch. Deren Väter finden das nicht immer gut. Natürlich gibt es auch das Problem einer Macho-Kultur oder die Versuche, Töchter von der Ausbildung fernzuhalten. Genauso wie in nichtmuslimischen Gesellschaften, wo Sie in Bauern- oder Arbeiterfamilien Söhne finden, die studieren durften, und Töchter, die heiraten sollten.
Das klingt stärker nach einem soziologischen als nach einem theologischen Problem.
Das ist in der Tat schwer auseinanderzuhalten. Soziologisch erklärbare Phänomene sind oft religiös kodiert, das macht die Trennung schwierig. Ich habe hin und wieder auch als Gutachter vor Gericht ausgesagt in Fällen, wo die Rechtsanwälte versuchten, familiäre Gewalt als kulturell, also mit dem Islam zu erklären, um ihre Klienten zu entlasten. Das mag ein legitimer Versuch vor Gericht sein, aber so automatisch funktioniert das nicht. Dazu ist in den Communities viel zu viel in Bewegung. Ich erinnere mich an eine U-Bahn-Fahrt, wo von Floridsdorf bis zur Alser Straße ein Mädchen mit Kopftuch ihrem Bruder ins Gewissen geredet hat: „Du musst lernen, auch wenn das jetzt so schwer ist. Lern, ich helf dir dabei.“ Man muss eben schauen, welcher Kopf unter einem Tuch steckt. Gerade durch den öffentlichen Diskurs werden solche Frauen in eine Verteidigungshaltung gedrängt.
In einer Studie über junge muslimische Männer erhob die Soziologin Edit Schlaffer, dass 70 Prozent von ihnen Religion als wichtiger erachten als Demokratie. Ein Alarmzeichen?
Wenn ich Gläubige frage, dann würde ich so eine Antwort erwarten. Religion muss für mich etwas Wichtiges sein, wenn ich wirklich gläubig bin. Diese Fragestellung ist merkwürdig. Was würde ein Christ antworten, wenn man ihn fragt, ob er die Bibel höher als die Verfassung hält? Natürlich wird für Gläubige das Wort Gottes wichtiger sein. Gleichzeitig kann man natürlich erwarten, dass die Verfassung respektiert wird, so wie auch andere Menschen, die in dieser Gesellschaft leben.
Hier ging es vor allem um die viel zitierten Integrationsdefizite.
Natürlich, Mängel an Integration gibt es, aber das führt uns vielmehr wieder zum religiösen Analphabetismus. Als ich in Floridsdorf über ein paar junge tschetschenische Männer gestolpert bin, die mit IS-Kappe und Hoodie unterwegs waren, stellte sich mir neben einigen anderen Fragen auch jene, wie ich religiöse Ressourcen mobilisieren kann, die in die Gegenrichtung führen; die Toleranz und Pluralismus-Akzeptanz bedeuten. Die sogenannte Integration kann man nicht daran festmachen, ob ein Mädchen Kopftuch trägt. Das sind persönliche Entscheidungen, und auch ein gewisser sozialer Druck mag mitspielen. Die Communitys haben jahrzehntelang am Rand gelebt, auch die Mehrheitsgesellschaft suchte selten soziale Kontakte. Es gibt immer noch Firmen, wo jeder Türke Ali heißt. Also was erwartet man von den Leuten? Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Wir versuchen aufzuholen, was über 30 Jahre nicht passiert ist. Nun haben wir das Problem, dass es nicht genug positive Verstärker gibt, die auch innermuslimisch sagen, welches Verhalten – auch im Sinn der Religion – legitim ist. Und natürlich gibt es Imame, die stärker auf Abgrenzungssymbole setzen. Mädchen, die vor 20 Jahren kein Kopftuch getragen hätten, tun das heute. Die von Ablehnung gekennzeichneten Diskurse über Islam und Muslime bringen es mit sich, dass sich Frauen und Männer stärker als Muslime zu erkennen geben. Das ist eine Reaktion, so paradox sie auch sein mag. Leider fehlen mehr positive Signale, dann würde sich die Situation entspannen.
Rüdiger Lohlker, 1959 in Emden, Deutschland, geboren, ist Universitätsprofessor für Orientalistik an der Uni Wien. Er ist einer der wenigen ausgewiesenen IslamexpertInnen in Österreich. Publikationen (Auswahl): Das islamische Recht im Wandel. Ribā, Zins und Wucher in Vergangenheit und Gegenwart (1999). Islamisches Familienrecht: Methodologische Studien zum Recht malikitischer Schule (2002). Islamisches Völkerrecht. Studien am Beispiel Granada (2006). Islam. Eine Ideengeschichte (2008). Dschihadismus. Materialien (2009). Hadithstudien – Die Überlieferungen des Propheten im Gespräch (2009). Muslime in Österreich (2012, Ko-Autor). Jihadism: Online Discourses and Representations (2013, Hg.)
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo