Bin sehr unterstützt worden
SPOTLIGHT. Die türkische Physikerin, Autorin und politische Kommentatorin Asli Erdogan ist nach 4,5 Monaten Haft freigelassen worden. Eine Anklage steht bevor. Text: Gunnar Landsgesell
Mitte der Neunziger Jahre studierte die Physikerin Aslı Erdoğan einige Zeit in Brasilien. Später, als die türkische Wissenschaftlerin bei der Atomforschung CERN in der Schweiz engagiert war, verarbeitete sie ihre Eindrücke in dem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“. Darin findet die Protagonistin Özgür (das heißt soviel wie „unabhängig“, „frei“ auf Türkisch) in Rio de Janeiro eine tote Frau am Straßenrand, für die sich niemand interessiert. Das Buch brachte den literarischen Durchbruch für Aslı Erdoğan, 2008 war sie auf der Frankfurter Buchmesse eingeladen. Rio hatte die Autorin als Ort sozialer Verwerfungen erlebt, ihren kritischen Blick und ihr soziales Bewusstsein brachte sie unverhohlen in den Roman ein. Man muss sich Erdoğan als freie Denkerin mit politischer Perspektive vorstellen, die in Zeitungskommentaren für Minderheiten, Frauenrechte, Gefangene und auch für KurdInnen Partei ergriffen hat. Viereinhalb Monate saß sie dafür in der Justizvollzugsanstalt Bakırköy, die Anklage lautete u.a.: Propaganda für die PKK und Zerstörung der Integrität des Staates. Noch aus der Haft schrieb sie, wie die Deutsche Welle berichtete, über die jüngsten Entwicklungen im Land: „Jede Meinung, die auch nur ein bisschen von der der Herrschenden abweicht, wird gewaltsam unterdrückt.“ Erdoğan hatte in der prokurdischen Zeitung „Özgür Gündem“ öfters Kolumnen verfasst und war zudem Mitglied eines beratenden Gremiums der Redaktion. Aslı Erdoğan, die im März 50 Jahre alt ist, sagt, dass die Zeitung mit Genehmigung des Innenministeriums erschienen ist; und gegen sie selbst habe es in all den Jahren nie ein gerichtliches Verfahren gegeben. Ihre Verhaftung sei völlig unvorbereitet gekommen. Im Dezember 2016 wurde Erdoğan freigelassen, erst kürzlich berichtete sie der FAZ über ihre Zeit im Frauengefängnis. Sie war dort in der Abteilung mit PKK-Mitgliedern, etwa die Hälfte ihrer Mitgefangenen gehörte der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei an. Jede Gefangene durfte bis zu 15 Bücher in ihrer Zelle besitzen, es war möglich, Zeitungen – selbst eine kurdische – zu kaufen, und auch Fernsehen war im streng reglementierten Vollzug möglich. Alle zwei Wochen war ein zehnminütiges Telefonat gestattet. Zugleich zeigte die Haft ihre Spuren, Erdoğan war gesundheitlich und psychisch angeschlagen. Die Diabetikerin erhielt laut eigenen Worten keine Behandlung. Sie beschreibt im Gespräch, wie sich der Freiheitsentzug und die Ungewissheit auf sie auswirkte, wie sich suizidale Gedanken einstellten und wie die Frauen von der PKK sie unterstützten. Jeden Vormittag habe man sich in Gruppen zusammengesetzt, um politische und philosophische Themen zu diskutieren, Gemeinschaft sei in dieser Situation extrem wichtig gewesen. So wie – vielleicht etwas überraschende – Symbole. Immer wieder hätten sie gemeinsam Pflanzensamen gezüchtet, den sie mangels Erde aus einer Mischung aus Teeblättern und zerstoßenen Eierschalen nährten. Hoffnungszeichen, solange, bis die Wärter die Pflanze erneut entdeckten und mitnahmen.
Wie es mit Aslı Erdoğan weitergeht, ist unklar. Sie selbst rechnet mit einer Anklage, die, Zitat, nach juristischen Gesichtspunkten jedoch nur mit einem Freispruch enden könne. Jedoch, so Erdoğans Einwand, handle es sich, wie in Tausenden anderen Fällen in der Türkei, um ein politisches Verfahren. Optimistisch ist nur bedingt: 2.500 RichterInnen und StaatsanwältInnen seien entlassen oder suspendiert worden, die Stellen aus Mangel mit jungen, unerfahrenen Leuten, viele nicht älter als Mitte zwanzig, nachbesetzt worden. Mit Aslı Erdoğan könnte ein Exempel statuiert werden. gun
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