Community News
Die Entdeckung der „Diasporapolitik“ und Geschenke für AuslandstürkInnen. Text: Ibrahim Yavuz
Eins ist klar: Seit über einem Jahr können sich im Ausland lebende Jugendliche mit türkischer Staatsbürgerschaft für 1.000 Euro von der Wehrpflicht der Türkei freikaufen. Ja, das ist kein Witz. Dieser Freikauf war ein großes Wahlversprechen der Regierungspartei AKP bei den letzten Wahlen, wo türkische StaatsbürgerInnen zum ersten Mal im Ausland, in den ständigen Vertretungen wählen gehen durften. Die Vorgeschichte: In der Türkei gibt es Wehrpflicht, wie in den meisten europäischen Staaten auch. Sie dauert in der Regel 15 Monate. Für die im Ausland lebenden Türken gab es schon immer eine gesetzliche Ausnahmeregelung: Für 6.000 Euro und zusätzlich drei Wochen Wehrdienstleistung in der Türkei konnte man quasi Ersatzleistung vollbringen. Vor den Wahlen im November 2015 gab die AKP bekannt, bei Wiederwahl den Betrag auf 1.000 Euro zu senken und den drei wöchigen Urlaubs-Wehrdienst zur Gänze abzuschaffen. Nach der Wahl wurde das Gesetz geändert. Schon in den ersten Regierungsjahren hatte die AKP kundgetan mehr für die „eigenen Leute“ im Ausland zu tun. Vor allem in Deutschland leben über eine Million türkische WählerInnen, die die Geschicke in Ankara beeinflussen könnten. In Österreich liegt die Zahl der türkischen Stimmberechtigten bei etwas mehr als Hunderttausend.
Bis vor kurzem kannte man in der Türkei so etwas wie „Diasporapolitik“ gar nicht. Für den Staat waren im Ausland lebende und arbeitende Türken vor allem eine gute Geldquelle. Viele reisen bis heute mit dem Auto zum Urlaub in die Türkei und bringen Bargeld ins Land. Jedoch scheint sich diese Mentalität der alleinigen Devisenfreude in der aktuellen Situation zu ändern. In den vergangenen zwei Jahren hat man den Faktor „Diasporapolitik“ in der Türkei erkannt. Nun sind Auslandstürken auch stimmberechtigt und auch gleich interessanter. Die AKP versucht deshalb mit einer freundlichen Politik im Ausland die Neustimmen für sich zu gewinnen. Türkische WählerInnen im Ausland registrierten Auswirkungen eines versprochenen Bürokratieabbaus, wodurch man beispielsweise neuerdings in den Konsulaten weniger Schlange steht. Ob es damit zu tun hat, dass der Zuspruch für Erdogan und die AKP zur anstehenden Verfassungsänderung durch Türkischstämmige im Ausland (weiterhin) anhält?
Ephesos-Stopp nach Kurz’ Aussagen
Seit 1895 leitet das Österreichische Archäologische Institut (ÖAI) die Ausgrabungen in der antiken Weltstadt Ephesos an der türkischen Westküste. Im September vergangenen Jahres wurden die Ausgrabungen vorübergehend gestoppt. Auslöser dafür waren vor allem die Äußerungen des jungen Außenministers Sebastian Kurz, der nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 Erdogan-Anhängern in Österreich die Ausreise nahelegte. Sie hatten in Wien gegen den Putschversuch in der Türkei protestiert und zu einer Demo aufgerufen. Die unglücklichen Aussagen des Außenministers zogen Konsequenzen nach sich. Zunächst wurde das Auslandsprojekt des ÖAI gestoppt, danach wurden österreichische Forscher in der Türkei des Landes verwiesen. Die Frage, ob Politik und Wissenschaft tatsächlich miteinander verbunden werden sollten, ist müßig. Den Schaden hat nun jedenfalls die Forschung. Bis heute liegt Ephesos als das einzige Prestigeprojekt des ÖAI im Ausland brach, Fortgang ungewiss.
Wertneutrale Erziehung
Die Regierung hat eine Gesetzesvorlage präsentiert, die das Kopftuchtragen in Teilen des öffentlichen Lebens verbietet. Diese Initiative der ÖVP, die von der SPÖ mitgetragen wird, bekam großen Applaus aus dem rechten Lager. Rasch kamen Diskussionen auf, wie es in den Schulen und Kindergärten aussieht. Als Legitimierung für das Vorhaben wird kolportiert, dass Muslime ihren Kindern bereits im Kindesalter Dinge aufzwingen, die diese gar nicht wollen.
In den vergangenen Jahren diskutierte man darüber, ob die Beschneidung bei Buben vor der Vollmündigkeit rechtmäßig ist. Nun wird über das Kopftuch diskutiert, in dem man das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung einschränken will. Fortan sollen Kinder – wenn möglich bis zum 18. Lebensjahr – „wertneutral“ erzogen werden. Das sagt uns unser aufgeklärtes, westliches Weltbild. Das klingt naiv: Ein Kind ohne persönliche Werte und Vorstellungen der Eltern zu erziehen, das könnte vielleicht auf dem Mond funktionieren. Aber sonst sicherlich nicht. Wie sollte das funktionieren? Vielleicht durch die absolute Abwesenheit der Eltern? Jede/r wünscht sich für sein Kind nur das Beste. Früher oder später geht freilich jedes Kind seinen eigenen Weg. Das gilt für alle Kinder!
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo