Eine revolutionäre Entscheidung?
SPOTLIGHT. Ildar Dadin wurde wegen des Abhaltens einer friedlichen Mahnwache zu 2,5 Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Februar kam der russische Oppositionelle überraschend frei. Text: Bianca Said
Ildar Dadin hat eine ukrainische Fahne über die Schulter geworfen und steigt vor einer versammelten Menschenmenge auf das Podium, um gegen den Krieg zu protestieren. Es ist Anfang Mai und der russische Oppositionelle Dadin hat zu diesem Zeitpunkt bereits 15 Monate in einem Straflager in Karelien an der Grenze zu Finnland hinter sich. Ziemlich überraschend war er im Februar diesen Jahres freigelassen worden, nachdem Berichte über Gewalt an Dadin von mehreren NGOs öffentlich gemacht wurden. Auch das Europäische Parlament hatte Dadins Inhaftierung verurteilt und eine Freilassung gefordert. Dass das tatsächlich passiert ist, könnte mit Dadins internationaler Bekanntheit zu tun haben, während rund Tausend andere politische Häftlinge weiter in russischen Gefängnissen einsitzen.
Urteil aufgehoben
Dadin war 2015 verhaftet worden, weil er mehrmals „unangemeldet“ eine Mahnwache im Zentrum von Moskau abgehalten hatte. Es ging ihm um Kritik an Putin, um Demokratiedefizite in Russland, um den Krieg in der Ukraine. Nach rechtsstaatlichen Kriterien sind das keine triftigen Gründe für ein Einschreiten der Sicherheitskräfte. Anders in Russland. Zudem war im Jahr zuvor der berüchtigte Artikel 212.1 des Strafgesetzes beschlossen worden, der vorsieht, dass jemand, der innerhalb von 180 Tagen drei Mal gegen die Regelungen öffentlichen Protests verstößt, mit einer Anklage zu rechnen hat. Es droht eine Geldstrafe von umgerechnet 10.000 bis 16.000 Euro. Dadin war der Erste, der in Russland nach dem Artikel 212 angeklagt wurde. Der Staatsanwalt hatte zwei Jahre Haft gefordert, der Richter entschied das sei nicht genug und verhängte drei Jahre Lagerhaft. Am Ende des Prozesses waren es 2,5 Jahre. Aus der Haft berichtete Dadin davon, dass Wärter in auf dem Boden liegend prügelten, seinen Kopf in eine Klomuschel drückten, ihn eine halbe Stunde an Handschellen mit den Armen auf dem Rücken aufhängten. Dadins Vergehen: Er war friedlich auf der Straße mit einem Plakat gestanden, um für Demokratie und gegen Krieg einzutreten. Während seiner Haft gingen Dadins Anwälte bis zum Obersten Gerichtshof, und bekamen dort im Februar diesen Jahres unerwartet recht. Das Gericht entschied, dass die Haftstrafe zu Unrecht verhängt wurde und dass Dadin zudem eine Entschädigung zustehe. Anders als in solchen Fällen üblich, bei denen Haftstrafen aufgehoben, stattdessen aber eine bedingte Haft verhängt wird, wurde Dadin freigesprochen und damit rehabilitiert. Seine Frau, Anastasija Sotowa, zeigte sich ebenso überrascht wie der Anwalt des Paares. Der Menschenrechtler Lew Ponomarjow bezeichnete diese Wendung sogar als „revolutionäre Entscheidung“. Er sagte, dass die Gerichte seit 17 Jahren die negativen bis negativsten Erwartungen bestätigt hatten und nun erstmals ein anderes Gesicht zeigen würden. Ildars Freilassung, so Ponomarjow, sei „der erste Sieg.“
Ein Sieg, dem Liberale allerdings nicht ganz trauen. Zwar war vorübergehend selbst der Direktor des Straflagers während einer amtlichen Überprüfung suspendiert worden und ein russischer Menschenrechtsbeauftragter hatte Dadin im Gefängnis besucht und vorgeschlagen, ihn in eine andere Haftanstalt zu verlegen. Doch als der Oberste Gerichtshof Dadin schließlich freisprach, dauerte es noch vier Tage, bis der Spruch auch vollzogen wurde. Offenbar wollte Moskau verhindern, dass Dadin beim Gedenkmarsch für den 2015 getöteten Oppositionellen Boris Nemzow öffentlich auftreten konnte. Dadin zog sich seit seiner Freilassung indes nicht zurück und war – wie eingangs berichtet – bei mehreren Protestkundgebungen zu sehen. Es wird von kurzzeitigen Verhaftungen Dadins im April und im Mai berichtet.
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