Ich möchte Orientierung geben
Tanya Kayhan hat in Afghanistan als Journalistin gearbeitet und ist vor der Gewalt der Taliban geflohen. In Wien hat sie viel vor. Ein Gespräch über afghanische Schulbücher, Wertekurse und Integration. Interview: Gunnar Landsgesell.
Sie sind erst seit wenigen Jahren in Österreich, sprechen perfekt Deutsch, haben einen Verein für Integration und kulturelle Entwicklung gegründet, bei „biber“ und „W24“ im Rahmen von Praktika gearbeitet, Sie vernetzen afghanische Vereine zur besseren Kommunikation. Wie haben Sie das alles geschafft?
Ich hatte schon in Kabul an der Universität fünf Österreicher kennengelernt, die dort Fotografie unterrichtet haben. Als ich 2011 hier angekommen bin, habe ich mich bei ihnen gemeldet und wurde gut unterstützt. Auch Herta Margarete Habsburg-Lothringen hilft mir, sie hat einen Verein, „Flamme des Friedens“. Sie ist meine Mentorin, das lief über den Österreichischen Integrationsfonds. Sie half mir bei der Wohnung und auch bei Arbeit. Für mich persönlich war die wirtschaftliche Situation nicht so schwierig wie für viele andere, weil mich einige Leute unterstützt haben. Die ersten zwei Jahre habe ich bei den Salvatorianerinnen in der Auhofstraße gewohnt. Ich war von Anfang an gut vernetzt, das war wichtig.
Sprechen die Afghanen nicht miteinander, dass Sie die Vereine erst miteinander vernetzen müssen?
In Österreich ist es so, dass alle Volksgruppen in einem eigenen Verein organisiert sind. Die Tadschiken, die Hazara, die Paschtunen, usw. Die Leute hatten hier keinen besonders guten Kontakt. 30 Jahre Krieg haben die Menschen innerlich voneinander getrennt. Manche Afghanen haben diese Haltung mit nach Österreich gebracht. Seit zwei Jahren habe ich versucht, die Vereine miteinander in Beziehung zu bringen. Wir haben auch ein Programm entwickelt, dass Leute, die eine Schule oder Universität in Österreich abgeschlossen haben, ein Würdigungs-Zertifikat, einen ‚Letter of appreciation’, bekommen. Das ist als Motivation gedacht, dass sie etwas geschafft haben. Vorher hätten die drei Vereine das nicht gemeinsam gemacht. Als ich das Interkulturelle Entwicklungszentrum gegründet habe, habe ich auch angeboten, den Ort als Treffpunkt zu nutzen. Seit Februar bieten wir Sprachkurse an, schon rasch hatten sich 40 Leute angemeldet. Es gab offenbar Bedarf.
Sie sind aus Afghanistan geflüchtet, welche Schwierigkeiten hatten Sie als Frau bei Ihrer Flucht?
Für viele Frauen ist eine Flucht schon aus finanziellen Gründen schwierig. Männer, Schwestern oder die Mutter wollen einen nicht alleine nach Europa gehen lassen. Das hängt natürlich auch von der sozialen Schicht ab. In gebildeten Familien, so wie das bei mir der Fall war, ist das nicht schwer. Ich hatte keine Hindernisse, aber ich hatte politische Probleme. Ich habe als Journalistin für „Voice of America“ gearbeitet, meine Reportagen waren über die Taliban, Terrorismus, al-Qaida und Drogengeschäfte. Ich wurde schließlich durch die Taliban bedroht. Auch Reisen in entlegene Gebiete waren nicht möglich, die Gefahr, als Geisel genommen zu werden, war zu groß.
Wie konnten Sie unter diesen Umständen arbeiten?
Das Umfeld war schwierig, viele meiner Kollegen waren Männer. Ich bin nicht immer akzeptiert worden. Ich habe ab 2005 beim afghanischen Parlament als Journalistin gearbeitet, auch in anderen Bereichen, etwa bei einem Fernsehsender als Moderatorin. In der Redaktion habe ich aber kein Kopftuch getragen, das war ja auch nicht gesetzlich vorgeschrieben. In einer Sitzung meinte der Chefredakteur: Diese Frau – er sprach mich nicht direkt an – trägt kein Kopftuch, in Afghanistan müssten aber alle Frauen Kopftuch tragen, auch im Büro. Ich habe geantwortet, dass ich das ablehne, weil das Kopftuch in Afghanistan Symbol einer patriarchalen Haltung ist und nicht für Religion.
Wie fiel die Reaktion aus?
Der Chef hat gesagt, dass Afghanistan ein islamisches Land sei und dass ich mich daran halten müsse. Ich habe dann ein paar Tage lang ein Kopftuch getragen, kurz darauf habe ich gekündigt und bei „Voice of America“ zu arbeiten begonnen. Dort hatte ich wesentlich mehr Rechte als Frau. Doch dann kamen andere Probleme, alle wissen, dass der Sender kritisch berichtet, etwa über die Taliban. Auch Soldaten versuchen einen bei der Arbeit einzuschüchtern, laut einer Statistik sind darunter sogar fünf Prozent Nato-Soldaten. Alle meine Kollegen konnten über Einschüchterungen berichten, etwa wenn sie etwas über die Regierung recherchierten; oder über die Taliban, so wie das bei mir der Fall war.
Sie haben vorhin verschiedene Volksgruppen erwähnt, ist es für Sie persönlich wichtig, welcher Sie angehören?
Ich gehöre den Tadschiken an, also der persischen Volksgruppe. Aber für mich ist Religion, Sprache, oder Ethnie nicht wichtig, es geht um den Menschen. So sehe ich das, deshalb würde ich das gerne auch so verbreiten. Für einige Leute ist so eine Zugehörigkeit schon wichtig, das hat auch mit Bildung zu tun. Alle, die bereits in Österreich aufgewachsen sind, sind offener. Sie akzeptieren einander, Humanismus ist ihnen sehr wichtig.
Integration ist einer der zentralen politischen Begriffe in der Migrationsdebatte geworden. Woran denken Sie dabei?
Integration beschreibt, wie man sich in einem neuen Land einbringen kann: Wie kann man die Kultur lernt, die Sprache, wie man eine Ausbildung erhält, wie man sich zu seiner Umwelt verhält, wie man hier mit Leuten spricht. Ich denke, das ist ein Prozess von vielen Jahren. Für Analphabeten ist das besonders schwer. Es gibt ungefähr 35.000 Afghanen in Österreich und das alles kostet viel Geld. Als ich nach Österreich gekommen bin, hatte ich keine Ahnung, an welche Stellen man sich wenden soll. Ich möchte den Leuten ganz praktische Orientierung geben.
Würde es helfen, wenn man noch vor dem Bescheid arbeiten darf?
Ich glaube, es ist besser, wenn die Leute zuerst die Sprache lernen. Aber viele Asylwerber haben keine gute Chance auf einen Deutschkurs. Viele schlafen in Heimen und sind dort isoliert, außerdem gibt es nicht genügend Deutschkurse. Deshalb auch meine Initiative hier in Simmering. Wir müssen etwas tun, dass die Leute ein bestimmtes Deutsch-Level erreichen, sobald sie ihren positiven Bescheid bekommen. Ich glaube, wir können die Integration beschleunigen.
Die Regierung setzt auf Symbolpolitik und hat mit einem Integrationsgesetz beschlossen, in Bereichen wie der Polizei oder Justiz Kopftücher zu verbieten. Wie sehen Sie das, ist das ein Beitrag zur ‚Integration’ oder eher hinderlich?
Meine Meinung ist, dass jemand die Gesellschaft in der er lebt, auch respektieren sollte. Ich finde nicht, dass man sich gegen die Gesellschaft stellen sollte. Ich respektiere ja zum Beispiel auch die Regeln einer Organisation, in der ich bin.
Lässt sich eine Gesellschaft wirklich mit einer Organisation vergleichen? Ein wichtiges Merkmal von Gesellschaft ist doch gerade deren Pluralität.
In einer Gesellschaft sollten alle Leute so leben, wie sie möchten. Unternehmen setzen aber oftmals voraus, dass man sich an ihre Regeln hält. Ich kenne viele Leute, die deshalb keine Jobs bekommen. Eine Frau aus Kasachstan, sie lebt schon lange in Österreich, trägt ein Kopftuch und findet deshalb keine Arbeit. Sie will arbeiten, kann aber nicht.
Das klingt aber nach einem Fall von Diskriminierung.
Ja, das ist vom Arbeitgeber sicherlich nicht in Ordnung.
Diskriminierung wird in der ‚Kopftuchdebatte’ in Österreich eher selten diskutiert, wie sehen Sie das? Sie haben vorhin erzählt, Ihr Arbeitgeber in Afghanistan wollte Sie zum Kopftuch verpflichten. Sollte das nicht eine persönliche Entscheidung bleiben?
In Afghanistan war es so, dass die Taliban und die Mudschaheddin uns zwangen, ein Kopftuch zu tragen. Davor war es ganz anders, meine Mutter und auch meine Großmutter hatten nie ein Kopftuch getragen. Auch ich hatte als Kind keines. Vielleicht fühle ich mich hier in Österreich nicht sehr wohl, wenn ich eine Frau mit Kopftuch sehe, das kommt vielleicht von dem Zwang von damals. Natürlich sollte jede Frau das selbst entscheiden. Aber Frauen aus Afghanistan sind in dieser Kultur aufgewachsen, für manche ist es schwer, das Kopftuch nun wegzulassen. Sie fühlen sich nicht wohl dabei. Und es gibt Männer, die nicht wollen, dass ihre Frau ohne Kopftuch unterwegs ist. Das hat natürlich auch mit den Vorstellungen von Respekt und Ehrgefühl zu tun.
Kennen Sie Männer, die ihre Frauen zwingen, ein Kopftuch zu tragen?
Oh ja, da gibt es manche. In der letzten Zeit sind viele Leute eher aus dem ländlichen Raum als Flüchtlinge gekommen, sie sind von ihrem Dorfleben geprägt. In Österreich glaubt man, dass ganz Afghanistan so ist. Ich werde immer wieder gefragt: Tanya, woher kommst du? Warum trägst du kein Kopftuch? Dann muss ich den Leuten erklären, dass es in Afghanistan nicht nur eine Kultur gibt und nicht alle Menschen religiös sind.
Der Wissensstand über Afghanistan ist in Österreich recht gering, zugleich sind viele überzeugt, dass Wertekurse nötig sind. Auch Sie haben ein Konzept für Wertekurse erarbeitet. Was sind Werte?
Ich glaube, ein Wert ist die Bedeutung, die eine Gesellschaft bestimmten Dingen zuspricht. Ich habe die Unterlagen des Österreichischen Integrationsfonds zu Wertekursen gesehen, ein kleines Buch mit dem Titel „Mein Leben in Österreich“. Da geht es nur um Werte, die es in Österreich gibt. Aber es gibt keinen Vergleich zwischen afghanischen und österreichischen Werten. Das wäre aber besser. Beispiel: soziale Werte. In Afghanistan gibt es eine kollektiv ausgerichtete Kultur, in Österreich ist man sehr individuell. In Österreich kann sich eine Frau entscheiden, ob sie einen Freund hat, ob sie heiratet und alleine wohnt. In Afghanistan dürfen Frauen keinen Freund haben, nicht allein wohnen, nicht allein reisen. Das müssen wir vergleichen. Oder: In Afghanistan dürfen die Leute nicht über Religion, Frauenrechte und Sexualität reden, hier schon. Vor 30 Jahren war das anders, da mussten Frauen keine islamischen Kleider tragen. Deshalb habe ich ein Programm entwickelt, das heißt „Integration durch Medien“. Die Idee ist, in Beiträgen und Interviews mit afghanischen Leuten die „first steps“ zu zeigen. Ankömmlinge sollen sehen, wo man Deutschkurse findet, eine Wohnung, wie man sich am AMS anmelden kann. Das über Bildbeiträge zu vermitteln, ist insbesondere auch für Analphabeten wichtig. So einen Ansatz hat es im österreichischen Fernsehen noch nicht gegeben. Wir haben dafür eine Kooperation mit Okto TV gegründet. Außerdem arbeite ich gerade an einer Website für dieses Programm.
Was wollen Sie den Leuten über Werte vermitteln?
In Österreich gibt es Fernsehsendungen über die Kultur in Österreich, in denen die Leute etwas über sich selbst erfahren, wo ihre eigene Kultur thematisiert wird. Das gibt es in Afghanistan nicht mehr, das Kulturministerium, die Schulbücher, alles wurde durch die Mudschaheddin und die Taliban ausgetauscht. Ich selbst hatte im Schulbuch in der ersten Klasse Sätze stehen wie: Mein Vater hat fünf Waffen. Mein Großvater hat eine Kalaschnikow. Das sind jihadistisch ausgerichtete Inhalte, die Kinder wachsen nicht mehr mit wissenschaftlichen Lehren auf. Kein Wunder, dass die junge Generation mittlerweile konservativer ist als ihre Eltern. Früher war Afghanistan multikulturell, heute gibt es offizielle nur eine einzige Kultur. Die Regierungen haben in Afghanistan alles kaputt gemacht.
Glauben Sie, dass die meisten Leute, die aus Afghanistan flüchten, nichts über europäische Gesellschaften wissen und erst einen Kurs benötigen?
Ich glaube, bei vielen gibt es schon ein Wissen darüber. Aber manche nützen die Freiheiten in Europa auch aus. Sie glauben, sie können hier alles machen, haben die ‚Freiheit’, sich gegenüber Frauen zu verhalten, wie sie wollen. Da ist auch oft Alkohol im Spiel, in einigen Fällen hat es Vergewaltigungen gegeben. Aber natürlich, das ist keine kulturelle Frage, auch wenn Afghanistan eine sehr patriarchale Gesellschaft ist. Die meisten Afghanen in Österreich wollen in Sicherheit leben und wissen die Grenzen anderer zu respektieren.
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