Parallel sind die Anderen
SONDERECKE. Der „Frame“ von der Parallel-Gesellschaft. um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger, Illustration: Petja Dimitrova
„Wir wollen keine Parallel-Gesellschaften“. Ein häufiges Verlangen, wenn es um Kopftuch, Halal-Food oder Kinderehen geht – also dann, wenn kulturelle Differenzen diskutiert werden. Eher weniger hört man die Forderung bei elitären Kunsteinrichtungen, Armutsbekämpfung oder der Explosion von Grundstückspreisen in Nobelvierteln – also dann, wenn ökonomische Unterschiede berührt sind. Die Parallel-Gesellschaft ist ein Konzept, das sich vom Zentrum gegen die Ränder richtet. Parallel sind die Anderen.
Wer solche Spitzfindigkeiten anspricht, setzt sich schnell dem Vorwurf der Verharmlosung aus und dem Verdacht, von unbequemen Themen ablenken zu wollen. Aber kann man in einer Migrationsgesellschaft debattieren, welche Lebensweisen zur Disposition stehen und welche nicht – ohne mit rechten Propaganda-Begriffen in die Kulturalismus-Falle zu tappen? Man kann. Selbst bei Themen, die bereits massiv durch rechtes „Framing“ vergiftet sind. Das haben die Religionswissenschaftlerin Viola Raheb und die Verwaltungsrichterin Anna Sporrer gezeigt. Mit ihrer Diskussion über Kinderehen auf der 3. NOW-Konferenz in Wien. Was soll mit minderjährigen Ehepaaren geschehen, die in Österreich als Flüchtlinge anerkannt sind, lautete eine der Kernfragen.
„Kinderehen sind gegen unsere Werte, die wollen wir hier nicht“, antwortet das Narrativ von der Parallel-Gesellschaft. Dem ist entgegen zu halten, dass selbst verfassungsgemäß garantierte Grund- und Menschenrechte nicht sakrosankt sind. Nur wenige Grundrechte gelten absolut, etwa das Recht auf Leben oder der Schutz vor Folter. Viele Rechte können sich widersprechen und müssen daher gegeneinander abgewogen werden. Immer ist ihre Anwendung eine Interpretation durch Gerichte. Daher entwickeln sich Grundrechte mit der Gesellschaft weiter. Das kann man derzeit an der Rechtsprechung zu LGBTI beobachten. Analog können sich auch Werthaltungen in Migrationsgesellschaften ändern und damit auch die Rechtsprechung. Und das ist gut so. Aber wo endet der Spielraum für solche Transformationen?
Jedenfalls dort, wo internationale Konventionen Mindeststandards festlegen, so der Tenor am Konferenz-Panel. Die Kinderrechtskonvention verpflichtet Signatarstaaten auf das Kindeswohl. Daher sind Kinder in Österreich gesetzlich vor einer zu frühen Verheiratung geschützt. Auch eine im Ausland geschlossene Ehe wird nur anerkannt, wenn beide ehemündig sind. Doch was, wenn ein minderjähriges Paar selbst ein Kind hat? Ist dann die Trennung des Paares wirklich die beste Lösung? Solche ambivalenten Realitäten erfordern differenzierte und pragmatische Abwägungen durch kompetente Institutionen. Menschenrechtliche Konzepte wie das Kindeswohl bieten dazu eine geeignete Grundlage. Der Frame von Parallel-Gesellschaften nicht.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at
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