Türkei: Am Scheideweg
Die Türkei steckt in einer politischen Krise. Erdoğan verspricht ein Präsidialsystem als Lösung. Die Opposition fürchtet eine Diktatur. Ein Verfassungsstreit mit langer Geschichte. Text: Ali Cem Deniz
In der Türkei gibt es überall einen Başkan. In der Partei, in der Gemeinde, im Fußballklub, im Fanclub, im Elternverein oder in der Gewerkschaft ist ein Leben ohne Başkan nicht vorstellbar. Der Başkan ist der Präsident und häufig ist es ein Mann, der in einem geräumigen Büro hinter einem massiven Tisch sitzt. Eine goldene Plakette auf dem Schreibtisch erinnert die Besucher daran, dass hier ein Başkan sitzt. Selbst wenn der Verein oder die Behörde noch so unbedeutend ist, ist der Başkan eine ernst zu nehmende Person. Und obwohl sich fast überall ein Başkan findet, gibt es ausgerechnet an der Spitze des Staates keinen.
Dort steht Recep Tayyip Erdoğan, der offiziell nur ein „symbolischer“ Başkan sein darf. Ohne Partei und ohne die massiven exekutiven Kompetenzen, die Başkans üblicherweise haben. Er muss neutral auftreten und darf sich nur begrenzt in die tägliche Politik einmischen. Dass Erdogan und die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) das jetzt ändern wollen, ist keine große Überraschung. Als 2014 der Präsident zum ersten Mal nicht vom Parlament, sondern von der Bevölkerung direkt gewählt wurde, war klar, dass diese Wahl das politische System verändern wird. Viel überraschender ist eigentlich, dass die Türkei so lange der parlamentarischen Demokratie treu geblieben ist. Zumindest auf dem Papier.
Der Ein-Mann-Staat
Die Gründung der Republik hatte 1923 das Ende der osmanischen Monarchie besiegelt, aber noch keine Demokratie gebracht. Für ein demokratisches System herrschte in der jungen Republik kein großes Bedürfnis. An der Spitze des neuen Staates stand ein gewisser Mustafa Kemal, der als „Atatürk“ geradezu verehrt wurde. Mustafa Kemal Atatürk hatte sich in den letzten Jahren des Osmanischen Reiches sowohl gegen seine Gegner auf dem Schlachtfeld, als auch in der Politik erfolgreich durchgesetzt. Der Personenkult rund um Atatürk wurde zur offiziellen Doktrin des neuen Staates. Die von ihm gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) hatte volle Kontrolle über den Staatsapparat und war verantwortlich für die Umsetzung des „Kemalismus“. Die CHP ist heute die älteste politische Partei der Türkei. Auf ihrer Parteiflagge repräsentieren sechs Pfeile Mustafa Kemals zentrale Ideen: Republikanismus, Laizismus, Nationalismus, Populismus, Revolutionismus und Etatismus. Sie bilden das Rezept aus dem der kemalistische Fortschrittsgedanke gemacht ist.
Mustafa Kemal und die politische Elite des Landes hatten den Bruch mit dem Osmanischen Reich gesucht. Bis zum Tod Atatürks im Jahr 1934 blieb kaum etwas aus dem ehemaligen Großreich übrig. Man verlegte die Hauptstadt ins moderne Ankara, wo der österreichische Architekt Clemens Holzmeister mit seinen zweckbetonten Bauten der kemalistischen Moderne ein Gesicht verlieh. Man schaffte das Kalifat ab, verdrängte den Einfluss der Religion, „bereinigte“ die Sprache von nicht-türkischen Elementen. Mit gleichem Tempo schufen die Reformer eine neue Gesellschaft: weg vom multi-ethnischen und multi-religösen Osmanischen Reich hin zum homogenen Nationalstaat. Hier hatten nur die Türken Platz, ethnische und religiöse Minderheiten mussten sich dieser neuen Identitätspolitik fügen. Ein fruchtbarer Boden für Konflikte, die noch heute existieren. Der bekannteste und blutigste ist jener mit der kurdischen PKK.
Das geschwächte Reich nahm sich die europäischen Feinde zum Vorbild und versuchte eine Modernisierung, mit teils verheerenden Folgen. Kaum jemand in der türkischen Geschichte hatte so viel Macht konsolidieren und radikale Reformen umsetzen können wie Atatürk. Eine parlamentarische Demokratie wäre für die Kemalisten nur ein Klotz am Bein gewesen. Bei den Wahlen durfte von 1923 bis 1946 nur eine Partei antreten: die CHP. Nach Atatürks Tod übernahm İsmet İnönü als Staatspräsident das Ruder. Er verlieh sich selbst den Titel „Milli Şef“ („Nationaler Chef“) und baute einen ähnlichen Personenkult auf.
Militarisierte Demokratie
In dieser ersten Phase der Republik wurde der Opposition, egal ob kommunistisch oder islamisch, kein Raum gelassen. Erst außenpolitische Veränderungen brachten der Türkei demokratische Wahlen. Aus Angst vor einer Invasion durch die stalinistische Sowjetunion, trat die Türkei der NATO bei. Dafür musste sie zwei Bedingungen erfüllen: Sie sollte im Koreakrieg mitkämpfen und innenpolitisch demokratische Reformen umsetzen. Bei den Wahlen 1950 musste die CHP schließlich die Regierungsgeschäfte abgeben. Seit damals ist die „Atatürk-Partei“ fast durchgehend Oppositionspartei geblieben. Der Kemalismus hingegen hat seine dominante Stellung nicht verloren. Selbst die islamisch-konservative Partei kann es sich nicht leisten, den Kemalismus völlig abzulehnen. Auch in ihren Verfassungsentwürfen findet sich deshalb die Gründungsideologie der Türkei wieder – wenn auch in reduzierter Form.
Die Bevölkerung durfte nun erstmals mitentscheiden. Die Wahlen allein brachten aber noch keine Demokratisierung, denn das neue politische System hatte einen mächtigen Feind. 1960 setzte das Militär Adnan Menderes, den ersten gewählten Ministerpräsidenten des Landes, ab. Nun wurde er im Eilverfahren verurteilt und gehängt. Seine Hinrichtung traumatisierte die Wähler. „Alle zehn Jahre ein Putsch“ wurde von da an zum Naturgesetz der türkischen Politik.
Das Militär erklärte sich zum Schutzschild gegen „äußere“ und „innere“ Gefahren. Ehemalige Militärs nahmen mächtige Positionen im Staat ein und überwachten die Regierungsarbeit. Bei Bedarf schritten die Militärs ein und setzten die Demokratie aus. Bis 1989 waren alle Präsidenten ehemalige hochrangige Offiziere. Den Höhepunkt dieser Militarisierung der Demokratie erreichte die Türkei mit dem Putsch von 1980. Neben dutzenden, teils willkürlich verhängten Todesstrafen und tausenden Haftstrafen brachte der Putsch eine neue, auf das Militär zugeschnittene, Verfassung. Auch die berüchtigte 10-Prozent-Hürde, die kurdische, islamistische und linksradikale Parteien vom Parlament fern halten sollte, wurde eingeführt.
„Wir lassen nicht zu, dass du Başkan wirst!“
Dieser kurze historische Abriss zeigt, unter welchen Vorzeichen sich das politische System der Türkei entwickelt hat. Die Verfassung, mit der das Militär seinen eisernen Griff auf den Staat zu sichern wusste, will die AKP heute verändern. Trotz aller Anstrengungen konnte das Militär aber niemals die volle Kontrolle über die Politik gewinnen. Dem Militär kritisch gegenüberstehende Politiker wie der 1993 verstorbene Staatspräsident Turgut Özal, Islamisten wie der kurzzeitige Ministerpräsident Necmettin Erbakan sowie Recep Tayyip Erdoğan, aber auch kurdische Kräfte gewannen immer mehr an Einfluss. So war der Militärputsch von 1997 eigentlich dazu gedacht, die Islamisten endgültig in die Schranken zu weisen. Stattdessen führte er schließlich zum Erdrutschsieg der moderaten islamistischen AKP im Jahr 2002. Die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ versprach nicht nur wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch eine neue Verfassung. Ein Versprechen, das sie auch für kurdische Gruppen, die unter starkem Assimiliationsdruck standen, aber auch für liberale Gruppen attraktiv machte. Die Islamisten standen zwar für Wertkonservatismus, aber sie hatten die Repressionen der „Militärdemokratie“ am eigenen Leib gespürt und versprachen nun die „ileri demokrasi“, die „fortgeschrittene Demokratie“. Den ersten großen Schritt machte die AKP mit dem Verfassungsreferendum im Jahr 2010. Bis dahin war es dem Militär als Ordnungsmacht de facto „legal“ möglich, zu putschen. Die Abstimmung wurde nun aber zum großen Erfolg für die AKP und sie zeigte auch auf, dass Veränderung, dass eine neue Verfassung möglich ist.
Dass die AKP dennoch insgesamt fast 15 Jahre brauchte, bis sie einen neuen Verfassungsentwurf vorlegen konnte, hat unterschiedliche Gründe. Die Opposition, insbesondere die CHP, blockierte mit allen Mitteln Diskussionen über eine neue Verfassung. Sie berief sich dabei auf die verfassungsrechtliche „Unantastbarkeit“ der kemalistischen Prinzipien, deren Reform offiziell nicht einmal vorgeschlagen werden darf. Die AKP aber brauchte sich keine großen Sorgen mehr zu machen. Das Militär und die „alten“ Eliten waren durch das Referendum geschwächt und bei Wahlen galt (und gilt) die Partei weiterhin als unschlagbar. Die Opposition besteht aus einer bunten Mischung aus Kemalisten, linken Kurden und Kurdinnen und türkischen Ultra-Nationalisten. Außer ihrer kritischen Haltung gegenüber der AKP finden sie keinen gemeinsamen Nenner. Die Zehn-Prozent-Hürde entledigte die AKP zudem der Sorge einer Konkurrenz durch neue Mitte-Rechts-Parteien. Daran änderten auch einige Parteikrisen und AKP-Aussteiger, die kurzfristig als politische Hoffnungsträger galten, nichts. Solange sich VertreterInnen der Parteien in der Verfassungskommission prügelten und beleidigten, konnte die AKP argumentieren, dass sie noch mehr WählerInnen brauche, um allein die Verfassung durchzubringen. Die neue Verfassung wurde zur Karotte vor der Nase der WählerInnen und damit eine einzigartige Motivation. Politische Krisen verlangsamten den Prozess ebenso. Die regierungskritischen Gezi-Proteste und Korruptionsermittlungen schockten die AKP, immer wieder geriet die Verfassungsarbeit in den Hintergrund.
Den zweiten großen Schritt machte die AKP schließlich 2014, als sie zum ersten Mal die direkte Wahl des Präsidenten ermöglichte. Erdoğan selbst trat als Kandidat an. Wie immer musste er sich nicht vor der Opposition fürchten. Die kemalistische CHP und die nationalistische MHP einigten sich auf einen obskuren Kandidaten ohne politische Erfahrung. Der wahre Konkurrent von Erdoğan kam aus einer unerwarteten Ecke: Die linksliberale „Demokratiepartei der Vöker“ (HDP), die sich für Minderheitenrechte, insbesondere die der Kurden einsetzt, schickte den 41-jährigen kurdischen Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtaş ins Rennen. Der charismatische Politiker hatte zwar keine Hoffnungen auf den ersten Platz, aber er war eine Hoffnung für eine alternative Opposition. Erdoğan ging aus dem Wahlgang wie erwartet, als erster direkt gewählter Staatspräsident hervor, aber Demirtaş konnte mit knapp 10 Prozent ein wichtiges Zeichen setzen. Die HDP war jetzt in der Lage, die berüchtigte 10-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen zu bezwingen. Der Erfolg der HDP war beachtlich. Mit dem Slogan „Wir lassen nicht zu, dass du Başkan wirst!“, gelang es der kleinen Partei, nicht wenige der Erdoğan-GegnerInnen, die von den großen Oppositionsparteien frustriert waren, zu mobilisieren. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 schaffte die HDP mit 13 Prozent den Einzug ins Parlament. Bei den vorgezogenen Neuwahlen im November 2015 konnte sie sich mit 10 Prozent der Stimmen im Parlament behaupten.
Ein mächtiger Başkan
Der Einzug der HDP als Partei hat die AKP zu einer Art „lame duck“ gemacht. Ohne HDP hätte die AKP die absolute Mehrheit im Parlament und könnte ohne Rücksicht auf CHP bzw. MHP alleine regieren und auch eine neue Verfassung einführen. Mit der HDP war das nicht mehr möglich, doch die direkte Wahl des Präsidenten löste Diskussionen über die Rolle des Amtes aus. Allen voran Erdoğan vertritt die Position, dass ein direkt gewählter Präsident sich nicht auf eine symbolische Rolle beschränken muss. Während die anderen Parteien ebenfalls die aktuelle Verfassung kritisieren, fürchten sie, dass mit einer neuen Verfassung eine Art Präsidialdiktatur eingeführt würde.
Doch dann stärkt ausgerechnet ein Militärputsch die Hand der AKP. Der gescheiterte Putsch von Juli 2016 ist für die AKP Beweis genug dafür, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichen, um das Militär aus der Politik fern zu halten. Solange Putschgefahr bestehe, könne sich keine Demokratie entwickeln. Die Position der AKP hat zu Spekulationen über die „Echtheit“ des Putsches geführt. Dass der Putsch schlecht geplant und noch schlechter umgesetzt wurde, steht außer Frage. Dennoch wäre es absurd anzunehmen, Erdoğan selbst hätte beim gescheiterten Umsturzversuch Regie geführt. Wenn Erdoğan derart Macht über den gesamten Sicherheitsapparat hätte, müsste er ohnehin kein Präsidialsystem einführen. Vielmehr zeigt der Putsch die Verzweiflung des Militärs und eine Schwäche der AKP auf. Auch wenn sie bei Wahlen weiterhin unschlagbar sein dürfte: Keine andere Partei schafft es, ihre WählerInnen derart zu mobilisieren und für ihr Projekt der „neuen und starken Türkei“ zu begeistern wie die AKP. Dennoch hat die Partei im Militär und in der Bürokratie immer wieder mit Krisen zu kämpfen, wie zuletzt der Bruch mit der Gülen-Bewegung gezeigt hat. In den vergangenen Jahrzehnten hatten die AnhängerInnen des Predigers Fethullah Gülen ein sektenartiges Netzwerk aufgebaut, das sich über Schlüsselpositionen erstreckte. Die auf Bildung fokussierte Bewegung brachte besonders viele hochrangige Bürokraten, Polizisten und Militärs hervor. Die AKP profitierte von diesem Einfluss und das Gülen-Netzwerk baute mit ihren guten Beziehungen zur AKP ihre politische Macht aus. Dass die Regierung ausschließlich Gülen-Anhänger für den Putsch verantwortlich macht, hat zwei Gründe: Gülen ist außerhalb seiner Bewegung eine verhasste Person, die weder von den Säkularen noch aus AKP-Kreisen Unterstützung erhält. Zudem deckt sich das Narrativ der Regierung mit persönlichen Erfahrungen vieler Menschen, wonach die Gülen-Gruppe weitflächig vernetzt war: in der Bildung, in NGOs, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und in den Medien. Ob das reicht, um einen Putsch zu organisieren, ist unklar. Die Kommission, die den Putsch untersucht, konnte bislang keine handfesten Beweise liefern. Für die AKP ist das zweitrangig: Sie präsentiert sich ohnehin als bestes Rezept gegen jede Art von Putsch.
Mit dem Amt des Başkan will sie nun eine Position schaffen, die volle Kontrolle über den Staat hat. Die prekäre Sicherheitslage und die Konflikte in der Region spielen ihr in die Hand. Heute betrachtet die AKP die Opposition etwa so, wie sie einst auch Atatürk sah: als einen Klotz am Bein, der den Aufschwung der Türkei unnötig verlangsamt. Zwar zeigt die Geschichte, dass die parlamentarische Demokratie in der Türkei stets von Defiziten geprägt war. Sie zeigt aber auch, dass die türkische Gesellschaft längerfristig nicht nur nach Stabilität, sondern auch nach Partizipation verlangt. Ob die Demokratie der Türkei einen mächtigen Başkan aushalten wird, wird sich zeigen.
Ali Cem Deniz ist Journalist und Autor. Das Geschehen in der Türkei beobachtet er aus journalistischer Perspektive u.a. für Radio FM4. Sein Buch „Yeni Türkiye – Die neue Türkei“ erschien 2016 im Promedia-Verlag.
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Verfassungsreform in der Türkei:
„Für eine starke Türkei“ lautet der Slogan, den Popstars wie Murat Boz oder prominente Fußballer unterstützen. Laut Meinungsumfragen wüssten aber viele Menschen gar nicht, worüber sie eigentlich abstimmen. Es geht nicht um Inhalte, sondern um Zugehörigkeit. Tatsächlich sollen beim Referendum am 16. April 18 Artikel der türkischen Verfassung geändert werden. Der Präsident soll fortan nicht nur Staats- sondern auch Regierungschef sein, das Amt des Ministerpräsidenten wird gestrichen. Der Präsident ist nicht länger überparteilich, zudem ist er für die Berufung und Abbestellung der MinisterInnen zuständig. Er kann per Dekret neue Gesetze erlassen, das Parlament muss nicht zustimmen. Das Misstrauensvotum wird abgeschafft. Parlamentarische Anfragen können nur noch an den Vize-Präsidenten oder die MinisterInnen gestellt werden. Der vielleicht problematischste Punkt: Der Präsident kann fortan das Parlament auflösen, womit die gegenseitige Kontrolle von Exekutive und Legislative entfällt. Die große Versprechung der Verfassungsreform liegt aus Sicht der AKP u.a. darin, dass „das Volk“ den neuen starken Mann der Türkei selbst wählen kann. Direkte Demokratie versus „checks and balances“, wie das KritikerInnen der Reform sehen. In der AKP argumentiert man indes, Erdogan sei der demokratischste Führer, den die Türkei je hatte. Red
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