Utopischer Realismus
SONDERECKE. Wer das Leben von Frauen verbessern will, sollte das geplante Frauenvolksbegehren 2.0 unterstützen. Um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger, Illustration: Petja Dimitrova
1997 gab es ein erfolgreiches Frauenvolksbegehren. Es wurde von 644.665 Menschen unterzeichnet. In den parlamentarischen Verhandlungen hieß es dann: „zu realitätsfern, nicht finanzierbar, realpolitisch unmöglich“. Nun hat eine Plattform aus mehreren feministischer Initiativen hat ein zweites Frauenvolksbegehren angekündigt. Wie realistisch sind ihre Forderungen?
Beim Vergleich der Forderungen von damals und heute fällt auf, dass ein Teil des Katalogs schlicht übernommen wurde. Schon damals wurde ein Mindesteinkommen oder die Anerkennung sozialer Bedürftigkeit ohne Einbeziehung des Partnereinkommens verlangt. Während das Haushaltseinkommen bei der Bemessung der Grundsicherung heute weiterhin eine Rolle spielt, kann man die Forderung nach einem Mindestlohn von 15.000 Schilling als weitgehend erfüllt betrachten. In fast allen Branchen liegt der Mindestlohn höher als die inflationsangepassten 1.300 Euro. Mehr noch: bis Juni wollen die Sozialpartner im Auftrag der Bundesregierung eine flächendeckende Untergrenze von 1.500 Euro vereinbaren.
Nun haben sich die 2.0-Initiatorinnen nicht mit Kompromissformeln begnügt und den Preis noch einmal kräftig erhöht. Neue Forderungen sind hinzugekommen, bestehende wurden ausgeweitet. Die Frauen verlangen die 30-Stunden-Woche und wollen dafür 1.750 Euro Mindestlohn. KritikerInnen schießen sich indes wenig überraschend erneut auf die sozial- und arbeitsrechtlichen Forderungen des Volksbegehrens ein: „zu realitätsfern, nicht finanzierbar, realpolitisch unmöglich.“ Die Überfrachtung mit sehr progressiven Forderungen komme geradezu einer Aufforderung an den Nationalrat gleich, das Anliegen als Gesamtheit abzuschmettern.
Was diese Position verkennt, ist der Umstand, dass der Nationalrat nicht an den Wortlaut des Begehrens gebunden ist. Er kann Elemente weglassen, aufgreifen, modifizieren. Wie diese parlamentarische Willensbildung verläuft, hängt letztlich auch von der politischen Mobilisierung durch das Volksbegehren ab. Je mehr Menschen unterzeichnen, desto wahrscheinlicher werden Ansätze auch umgesetzt. Wer also die realen Lebensbedingungen von Frauen verbessern will, ist gut beraten, das Begehren zu unterstützen – auch wenn manches utopisch erscheint.
Apropos utopisch: In Wirtschaftskreisen kursieren derzeit Studien, die besagen, durch die digitale Automatisierung werde in den nächsten 20 Jahren jeder zweite Arbeitsplatz verloren gehen. Einer kleinen Schicht von gut ausgebildeten SpezialistInnen werde ein Heer von prekärer ArbeiterInnen gegenüberstehen. Man muss nicht daran glauben, dass die Umsetzung des Frauenvolksbegehrens diese gesellschaftlichen Verwerfungen allein wird abfedern können. Aber die notwendige Diskussion über die Neuverteilung von Arbeit und Wertschöpfung kann man durch eine Unterstützung jedenfalls befeuern.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at
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