Wir, die Verweigerer!
Wird die Welt komplexer, hat man verstärkt das Bedürfnis, eindeutige Positionen zu beziehen. Naheliegend sind bewusste Einengungen der eigenen Identität. Nur, so eigen sind die oft nicht, eindeutig viel weniger. Gedanken zum momentanen Aufstieg des „Türkentums“ in den Bruchlinien der gesellschaftlichen Verhältnisse. Text: Can Gülcü
Zuerst eine Erklärung. In diesem Text werden die Begriffe „Türke“, „Türkin“ und „türkisch“ ebenso wie „Österreicher“, „Österreicherin“ und „österreichisch“ durchwegs unter Anführungszeichen verwendet. Aus einem ähnlichen, aber jeweils spezifischen Grund.
Zunächst zu „türkisch“: Seit Anfang der 2000er Jahre wird in einem bestimmten politischen Milieu der Türkei die Verwendung des Begriffs „Türkiyeli“ (aus der Türkei stammend, türkeistämmig) forciert, die im Gegensatz zu „Türk“ („Türke/Türkin“ ebenso wie „türkisch“) das Selbstverständnis des Nationalstaates in Frage stellen soll, die Zugehörigkeit der/des (Staats-)Bürgers/-in zur „Nation“ mit einer ebenso normierten und idealisierten wie künstlich hergestellten ethnischen Identität gleichzusetzen. Nicht zufällig fand dieses Bestreben im Anschluss an die 1990er Jahre statt, die von einem Wiedererstarken des „türkisch“-kemalistischen Nationalismus angesichts der militärischen Auseinandersetzungen mit der kurdischen Widerstandsbewegung bzw. von deren zunehmender Politisierung bestimmt waren. Und ebenso nicht zufällig am Anfang der langen Reihe an AKP-Regierungen, die zunächst unterschiedliche Selbstverständnisse ebendieses „türkischen“, kemalistischen Nationalstaates in Frage stellten, den Pluralismus und die Vielvölkerstaatlichkeit des Osmanischen Reiches zum neuen Referenzpunkt erklärten. Ohne freilich vom sunnitischen Islam als dominierendes Element der „nationalen“ Identität abzurücken. Und nicht zuletzt ebenso nicht zufällig findet in der Türkei seit den politischen Krisen der letzten Jahre eine „Renaissance“ des „Türkentums“ statt, wozu Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP angesichts der unterschiedlichen Erschütterungen ihrer Macht zurückgreifen. Die Losung „Eine Nation, eine Flagge, ein Vaterland, ein Staat“ wird von Erdoğan und seinen AnhängerInnen immer wieder geprägt, „eine Sprache“, „eine Religion“ und „ein Führer“ sind mitgemeint, wenn auch nicht immer ausgesprochen. In diesen Verwerfungen ändert sich auch die Bedeutung des Begriffs „Türkiyeli“ immer wieder – von einer relativ harmlosen Betonung der durch den Nationalstaat zerstörten Multikulturalität bis hin zu einem emanzipatorischen Kampfbegriff gegen den zunehmend autoritär, repressiv und militant agierenden Staat dieser Tage.
So umkämpft schienen hingegen die Begriffe „Österreicher“, „Österreicherin“ und „österreichisch“ lange Zeit nicht zu sein. Der aufkommende Deutschnationalismus und die repressive Assimilation der „vielen Völker“ in den letzten Jahren des Habsburger Reiches und in den Anfängen der Ersten Republik ähneln zwar in vielerlei Hinsicht der Geschichte der letzten Jahre des Osmanischen Reiches und der ersten Jahre der türkischen Republik mit dem aufkommenden Panturkismus sowie der Einverleibung von Ethnien, Kulturen, Religionen etc. des Osmanischen Reiches in einen konstruierten „Volkskörper“. Ebenso verbindet beide „Nationen“ die Auslöschung jener, die nicht in dieses Konzept passten. Bei aller Unterschiedlichkeit und auch jeweiligen Einzigartigkeit sind sowohl der Genozid an den ArmenierInnen als auch die Shoah bzw. der Völkermord an Roma und Sinti jeweils konstitutive Elemente der jeweiligen Nationwerdung, nicht zuletzt durch die ebenfalls jeweilige anschließende Verweigerung der Aufarbeitung. Nach der Auslöschung und Vertreibung von Juden und Jüdinnen sowie von Roma und Sinti sowie der weitgehenden Klärung des Umgangs mit den „nationalen Minderheiten“ (bis auf die Kärtner SlowenInnen mit ihrem Kampf um Anerkennung ihrer Identität und vor allem ihrer Rechte) fehlte Österreich lange Zeit der Stachel im Fleisch der nun einigermaßen homogenen „nationalen Identität“ wie ihn die KurdInnen in der Türkei spätestens ab Ende der 1970er Jahre mit der zunehmenden Militarisierung ihres Kampfes um Autonomie, Rechte und Anerkennung für die Türkei darstellten. Auch die wesentliche Erschütterung durch die „Waldheim-Affäre“ fand nicht unbedingt als Hinterfragung der Konstruktion des Begriffs „ÖsterreicherIn“ statt, auch wenn wesentliche beteiligte AkteurInnen Juden und Jüdinnen waren, sondern als politischer Kampf um die Deutungshoheit bei der nationalen Geschichtsschreibung und somit als Kampf um die abstraktere „Identität der Nation“. Das hat miteinander zu tun, ist aber nicht dasselbe.
Diskursive Figur: Ausländer
Nun kamen durch die Anwerbeabkommen ab Anfang der 1960er Jahre und die Ankunft der GastarbeiterInnen neue AkteurInnen ins Spiel, wobei sie für Fragen der „nationalen Identität“ erst ab ca. Mitte der 1970er Jahre relevant werden. Als zum einen der Zugang zum Arbeitsmarkt und somit der Zuzug von MigrantInnen stufenweise erschwert wird und zum anderen, als sich abzeichnet, dass ein Großteil der „Gäste“ sich doch entscheidet, dauerhaft zu bleiben und die Familien nachholt. Auch wenn es stimmt, dass die Migrationspolitik in dem heutigen Maß erst ab Mitte der 1980er Jahre, also dem „Aufstieg“ der FPÖ und von Jörg Haider, im Zentrum der politischen Diskussionen steht, ist der gesellschaftliche Umgang mit „GastarbeiterInnen“ bereits in den 1970er Jahren großes Thema. Als Bruno Kreisky davon spricht, dass der „Plafond erreicht ist“, reagiert er damit nicht nur auf die konjunkturelle Situation der Wirtschaft und somit des Arbeitsmarkts, sondern auch auf die zunehmenden Auseinandersetzungen um die Frage, ob die „GastarbeiterInnen“ den „ÖsterreicherInnen“ die Arbeitsplätze wegnehmen, ob sie „Ghettos“ am Stadtrand bilden und ob sie gefährlich oder kriminell wären.
Was aber darauf folgt, ist nicht nur die schrittweise Schließung des Arbeitsmarktes, die gesetzliche Festschreibung des unterschiedlichen Zugangs dazu, die Minderung der Zahlen der „GastarbeiterInnen“ durch Quasi-Vertreibungen sowie die Unterdrückung jeglicher Kämpfe von MigrantInnen um Rechte, sondern auch die Entstehung der diskursiven Figur des/der „Ausländers/in“. Ist der/die „GastarbeiterIn“ bis zu diesem Zeitpunkt immerhin noch „ArbeiterIn“, der/die – wenn auch mit eingeschränkten Rechten – zum Wohlstand des Landes beiträgt, ist er/sie seither und vor allem seit den 1990ern durch das Aufkommen der Integrationsdebatten eine vor allem durch den „kulturellen“ Unterschied definierte Person. Natürlich in Abstufungen, Hierarchien und Spezifika. Bereits ab ebendiesem Anfang der 1990er Jahren wird über die „Integrationsfähigkeit“ der verschiedenen „AusländerInnen“ diskutiert, dabei mit dem/der „TürkIn“ als außereuropäische Figur mit einer fremden Religion zunächst auf der untersten Stufe der Hierarchie und als größte Gefahrenquelle. Kurzzeitig abgelöst wird sie durch die im Zuge der EU-Erweiterung ankommenden „BettlerInnen“ aus ost- und südosteuropäischen Staaten sowie Geflüchteten aus afrikanischen Ländern, um schließlich nach dem 11. September vom/von der „TürkIn“ zum/r „Moslem/Muslima“ zu werden und damit wieder den angestammten untersten Platz einzunehmen. Nun, mit den in den letzten Jahren neu angekommenen Geflüchteten und MigrantInnen aus verschiedenen arabischen, kaukasischen wie europäischen Ländern gemeinsam zu einer großen „Umma“ zusammengewachsen, ist sie gemeingefährlich als Bedrohung der österreichischen „nationalen Identität“, die weiterhin stabil bleibt trotz aller Veränderung der Gesellschaft und aller sozialen Umbrüche. Diese Bruchlinien erkennt die AKP-Regierung übrigens sehr früh und stochert darin quasi als Teil ihrer Außenpolitik fleißig herum. Die Renaissance des „Türkentums“ findet – viel früher als in der Türkei selbst – bei den „TürkInnen“ im Ausland statt, ein Sich-wieder-finden als Teil eines sunnitisch-muslimisch-„türkischen Volkskörpers“, die in einem rassistisch-feindlichen Umfeld zusammenrückt und ihre Erlösung in dieser Einengung der eigenen, weitaus diffuseren Identität sucht.
Aber zurück zum Begriff „AusländerIn“. Dass er sich nicht nur auf den legalen Status, z.B. auf die StaatsbürgerInnenschaft der jeweiligen Personen bezieht, sondern tatsächlich auf eine vermeintlich existierende, sondern eher zugeschriebene Identität dieser, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass ich 2016, 52 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, einen Text zur Identität von „TürkInnen“ in Österreich schreiben soll, die hier „nicht ankommen wollen“ und „sich nicht integrieren können“. Nun, ich weigere mich und bestätige hiermit die Erzählung über den ewigen „Integrationsverweigerer“. Ich denke nämlich, dass wir uns endlich wieder mehr mit der behaupteten sowie tatsächlichen „österreichischen“ Identität auseinandersetzen müssten, als die politisch vorangetriebene Trennung zwischen partikularen Gruppen zu übernehmen und sie als in sich geschlossene, unveränderbare und kulturell definierte zu untersuchen und weiter festzusetzen. Zu dieser Auseinandersetzung mit der „österreichischen“ Identität gehört freilich auch eine Erzählung über die „türkeistämmigen ÖsterreicherInnen“ mit dazu. Aber diese wird vielmehr eine Erzählung über die Beschaffenheit des Staates und seines politischen und wirtschaftlichen Systems sein als eine über die „Kultur“ von einzelnen Subjekten, die zu Gruppen zusammengefasst werden, um wenigstens etwas Eindeutigkeit in komplexe Zeiten zu bringen.
Can Gülcü ist Kulturschaffender und Aktivist, ehemaliger Co-Leiter der WIENWOCHE und der Shedhalle Zürich, Lehrbeauftragter an Universität Graz und Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch, von Radio Orange 94.0 und der Initiative „Vielmehr für Alle“.
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